Jürgen Kisters

Nach vorn in die Vergangenheit

Dieses Land verändert sich mit rasender Geschwindigkeit, und dennoch tun die meisten Menschen so, als gehe alles weiter wie immer. Der Artikel 16 des Grundgesetzes wird verändert, das vornehme Grundrecht auf Asyl gibt es de facto fortan nicht mehr. Zum anderen sind deutsche Soldaten wieder salonfähig geworden, und die Boulevardzeitungen frohlocken in ihren Schlagzeilen bereits: "Deutsche Soldaten wieder im Einsatz". Die alten Militärgeister haben seit Jahren darauf gewartet. Und der Nachwuchs ist ihnen garantiert. Das Bundesverfassungsgericht läßt ein paar alte Männer über die Seelen und Bäuche von Millionen Frauen entscheiden, und heraus kommt ein perfides Urteil staatlicher Bevormundung. Während längst unzählige Kinder unter beschissenen Bedingungen in diese Gesellschaft hineinwachsen, weiß CDU-Fraktionschef Schäuble nichts besseres zu sagen als: "Das kriegen wir schon hin. Wer ungeborenes Leben schützt, tut etwas für alle Menschen." Die Zynismen konservativer Politiker nehmen kein Ende. Kranke sollen fortan ihre Pflege selbst bezahlen, und die Sozialhilfeempfänger hören täglich, daß sie es sind, die die Solidarität im Lande gefährden. Unwahrheiten bestimmen die Szene, und die Aufklärung ist im Mülleimer gelandet. Es ist zum Haareraufen. Man kann gar nicht soviel schreien und kotzen, wie man angesichts der allgemeinen Lage schreien und kotzen möchte.

Verstörte Geister vollziehen mit brutaler Gewalt den Rückfall in die nationalistische Barbarei, und den Offiziellen fällt immer wieder nichts besseres ein, als das Eiapopeia der Verharmlosung anzustimmen. Von Rostock bis Solingen das gleiche Lied. Alles soll ganz anders sein, als es ist. Derweil lenkt die Presse das Augenmerk auf ein paar "dumme schwarzgekleidete Chaoten". Die soziale Ungerechtigkeit schreitet mit Siebenmeilenstiefeln voran, die Jugend versinkt in trüber Verwirrung, und die Alten gehen in selbstverständlicher Blindheit ihren Geschäften nach. Das ist genau das, was in Deutschland 1993 geschieht. Die einen verjubeln an einem Abend mehr Geld, als andere für einen ganzen Monat zur Verfügung haben. Während die Wohnungsnot wächst, Ausländer auf offener Straße verprügelt werden, das Asylrecht im Abfall der Demokratie landet und christliche Armleuchter ihr moralparfümiertes Gift über die Menschen verspritzen, ereignet sich im Schatten der schweigenden Mehrheiten eine gigantische Veränderung in diesem Land. Die Armut wuchert wie ein schlimmes Krebsgeschwür, und die Freiheiten schwinden allerorten. Die Bereitschaft zur Gewalt gebiert widerliche Ungeheuer, und die Demütigungen der Untersten in dieser Gesellschaft nehmen kein Ende. Und wie erklärt man einem Kind diese Welt, in der einer "mal eben" für eine Million Mark Aktien kauft, während andere in den Mülltonnen der Großstadt nach Essensresten suchen?

Das Elend und die Widersprüche liegen längst wieder offen auf der Straße. Aber anstatt über Ideale, reden die Durchschnittsseelen über den nächsten Urlaub. Sozialarbeiter messen ihre Arbeitszeit mit der Stoppuhr, und Kinder verlernen das Laufen über dem Spiel am Computer. Es stehen zu viele Menschen auf Surfbrettem, anstatt zu einer politischen Überzeugung zu stehen. Die Ansichten sind schwammig, die Bekenntnisse routiniert. Die Empörung ist zum Klischee verkommen, und die Widerstände, die von allen Seiten kommen müßten, verlieren sich in lauen Sprüchen. Die Fernsehanstalten klatschen in die Hände wegen ständig steigenden Zuspruchs, während die politischen Initiativen längst aufgegeben haben, über ihre Nachwuchssorgen zu klagen. "Geld stinkt nicht", rufen selbst die vermeintlich Kritischen im Chor, Karriere stinkt nicht, Vergnügen stinkt nicht, ein bißchen Luxus muß sein. Es ist niemandem peinlich, zuerst nach dem Gewinn zu fragen, bevor man etwas tut. Innerhalb einiger Wochen setzten sich Entscheidungen und Denkansätze durch, die das nüchterne Gesicht der Bundesrepublik in eine finstere Fratze verwandeln. "Nichts wird so heiß gegessen, wie es gekocht wird", heißt das Sprichwort. Das zum Prinzip des täglichen Verhaltens zu machen, hat in Deutschland schon einmal in einer bösen Überraschung geendet. Die große Mehrheit der alltags-praktischen Realisten, gleichgültig, ob sie sich selbst links oder rechts oder unpolitisch nennen, trifft sich in einer fatalen Gemeinsamkeit. Nämlich darin, daß, wer nichts tut, nur fördert, was im Gange ist.

"Aber was", sagt jemand, "ist eine sinnvolle Tätigkeit?"

An einem dieser Tage ruft mich die Nachbarin von gegenüber an, Frau G., die mit einem Italiener oder Portugiesen verheiratet ist, jene hagere Frau, die gewöhnlich immer nur sehr zögernd grüßt. Was ich mir vorstelle, das man tun könnte gegen den Rassismus in diesem Land, fragt sie. Weil ich einen aufgeschlossenen Eindruck mache und in der örtlichen Mieterinitiative arbeite, sagt sie. Frau G. erzählt, daß sie Angst habe, auch ihr Haus könne brennen. Die Verunsicherung nach den Morden und Unruhen von Solingen ist groß. Und Solingen liegt nur siebzig Kilometer von hier. Ihre Kinder erzählen täglich von Rassismus in der Schule, und sie ist entsetzt darüber. Schon die "Kinder sind von diesem Gift geimpft", sagt sie, und ich kann ihr nur zustimmen. Seit der letzten Woche grüße sie ganz bewußt die türkischen Männer, die jeden Tag an der Ecke stehen, erklärt Frau G. Früher habe sie das nicht getan, und die türkischen Männer würden auffallend freundlich zurückgrüßen. "Der Blick, der den anderen anerkennt, ist ein Anfang", sage ich. Frau G. hat mit den türkischen Männern gesprochen, und einer, S., der Bärtige, der Weißhaarige, hat ihr sogar seinen Platz auf dem Geländer freigemacht, damit sie sich hinsetzen konnte. Das habe sie im ersten Moment fast beschämt. "Aber was kann man sonst tun ?", fragt sie. Auf diese Hilflosigkeit trifft man derzeit überall. Die einen hängen ein Transparent aus dem Fenster, dem anderen fällt nicht einmal das ein. Die einen organisieren einen Hilfsdienst, der zum Schutz der ausländischen Mitbürger auf Abruf zusammenkommen soll, die anderen haben sich in eine Demonstration eingereiht. Frau G. schließt jetzt abends die Haustüre zweimal ab, und sie kontrolliert auch vor dem Schlafengehen noch einmal die Speicherfenster. "Doch das alles ist zu wenig", sagt sie. "Eine gute Nachbarschaft, damit fängt es an", sage ich. Ich erzähle ihr, daß ich seit langem mit den türkischen Männern an der Ecke spreche und daß überhaupt jeder mit jedem und jeder sprechen müsse. Einander selbstverständlich wahrzunehmen ist ein kleiner, aber wichtiger Schritt. "Die größte Gefahr sind die Anonymität und die Gleichgültigkeit", sage ich. Genau dieser Prozeß der Beziehungslosigkeit ist in dieser Gesellschaft weit vorangeschritten. Es beginnt damit, daß keiner Zeit hat, und damit, daß sich keiner für zuständig erklärt.

Frau G. erklärt mir, daß die Zeit zum Diskutieren vorbei ist. Sie meint, man müsse die Situation mit einer großen Handlung, sozusagen mit einem Wurf, wieder ins richtige Gleichgewicht bringen. Die Vorstellung, daß dies möglich sei, ist ein Irrtum. Gerade so, wie sich dieser widerliche Haß schleichend entwickelt und aufgebaut hat, so daß er jetzt mit blinder, roher Gewalt hervorbricht, kann er nur Stück für Stück wieder besänftigt und abgebaut werden. Die Ursachen sind vielfach verschlungen und sitzen tief. Ohne den Blick auf die gesamten Bedingungen in dieser Gesellschaft wird sich nichts ändern. Wie werden Kinder heute groß? Wie arbeiten die meisten Menschen, und wie ordnen sie ihr Leben in nüchternen Funktionen an? Welches Gesicht hat die Armut und welches der Reichtum, und wie schmerzhaft klafft die Wunde der Ungleichheiten und sozialen Ungerechtigkeiten? Wie groß sind die Spielräume, und für wen und wo lastet welcher Druck auf welchen Seelen? Die Zerrissenheit der Erfahrung und die Orientierungslosigkeit der Menschen ist erschreckend. Mit Bekenntnissen und klugen Sprüchen wird nicht viel zu machen sein. Dies alles ist täglich und seit Jahren im Gange. Eine Fabrik schließt nach der anderen; das Gespenst der Arbeitslosigkeit überschattet fast jeden Lebenslauf. Sanierungen in diesem und jenem Viertel, gestern in der Südstadt, heute im Eigelsteinviertel, morgen in Kalk. Fast unbezahlbare Mietsteigerungen und der Verlust von Vertrautheit. Überhöhte Gestaltungswut an allen Ecken der Stadt und kaum Widerstand. Die Straße als Spielraum verloren, dafür allerorten die Kinder im Spiel unter Aufsicht von Fachpersonal und unter der unsichtbaren Kontrolle der Bildschirme. Teurer Freizeitspaß auf allen Ebenen, weil man dem Spiel der Werbungen und Geschäfte alle Freiheit läßt. Und kein Ton von Verweigerung und Bescheidenheit im Sound des Wohlstandes.

Man muß es einfach zur Kenntnis nehmen: monströse Skin-Heads fallen ebensowenig vom Himmel wie die alten Nazis ein unglücklicher Unfall der Geschichte waren. Kinder handeln nicht im luftleeren Raum; ihre "Aktionen" sind Ausdruck einer tiefgreifenden Orientierungskrise in diesem Land. Die Kinder unserer Zeit werden nur gelassener und glücklicher, wenn ihr Leben nicht schon im Alter von zwei Jahren unter das Zeichen streng organisierter Spiele und Zeitabläufe gerät. Jugendliche gewinnen nur dann das nötige Vertrauen in eine Gesellschaft, wenn sie von Idealen und Verbindlichkeiten getragen werden, die das Gefühl von "Sinn" vermitteln. Junge und alte Menschen kommen nur dann in eine ehrliche Beziehung zueinander, wenn über das Band des Geldes und der verzweifelten Suche nach Zerstreuung hinaus ein soziales Gewissen besteht. "Solidarität", "Hilfsbereitschaft", "Verständnis" - und nicht nur als Floskeln.

Frau G. hat mit den türkischen Männern gesprochen, und die Idee eines Treffpunktes ist entstanden. Ich habe ihr vorgeschlagen, daß sie in diesem Jahr mithilft, ein Sommerfest in der Siedlung zu organisieren, und ich habe ihr vorgeschlagen, ein paar Mal im Jahr solche Feiern zu veranstalten. Ich weiß nicht, wie oft ich immer wieder höre, daß jemand keine Zeit hat. Neulich sagte ein Bekannter: "Ich spendiere 100 Mark, weil ich sonst keine Zeit habe", und ich sagte: "Das ist nicht genug." Man muß sich schon etwas Zeit nehmen und die eigenen Hände zur Verfügung stellen, und eben daran krankt das Ganze. Zeit haben für ein Gespräch, für die Kinder, die eigenen und die fremden, für die Leute in der Nachbarschaft und sonstwo. Zeit für ein Schwätzchen über Gott und das Wetter, mit den deutschen und den türkischen Bewohnern von nebenan. Zeit für ein planloses Kinderspiel. Zeit für soziale und politische Tätigkeiten, die kein Geld einbringen, sondern allenfalls das unsichtbare Glänzen eines Ideals. Die ständigen Gespräche darüber, daß man nichts tun könne, regen mich auf. Millionen von Menschen gehen regelmäßig und gewissenhaft zur Arbeit, kaufen mit regelmäßiger Gewissenhaftigkeit in Kaufhäusern und Supermärkten ein, und sie arbeiten nach Feierabend fleißig und gewissenhaft an ihrem privaten Vergnügen und ihrem häuslichen Ideal. Doch wenn man sie fragt, ob sie sich gewissenhaft und regelmäßig ein paar Stunden die Woche für soziale Gerechtigkeit, eine lebensgerechte Umwelt und eine aufrichtigere Kommunikation einsetzen wollen, haben sie gewöhnlich keine Zeit.

Frau G. sprach am Telefon über ihre Angst, ihre Empörung und die Notwendigkeit, daß etwas geschehen müsse, etwas Konkretes, das den Lauf der Entwicklungen von Rostock, Hoyerswerda, Mölln und Solingen aufhält. "Wir treffen uns am Freitag gegen 20 Uhr", sage ich. Und ich bin gespannt, ob sie in dieser Woche kommt, und auch in der nächsten. Schließlich ist ein Mal kein Mal, und das Sprichwort, daß der Geist willig, aber das Fleisch schwach ist, mag den einen oder anderen beruhigen, mich nicht.

Hat der Protest von zwanzig, dreißig Jahren Gesellschaftskritik überhaupt keine Spuren hinterlassen, frage ich mich manchmal. War der Protest, der in einem Moment auftauchte, als die moderne kapitalistische Gesellschaft in voller Blüte, aber überraschend ahnungslos dastand, nur ein kleiner unbedeutender Seufzer?

Die politischen Bewegungen, die Kunst und die individuellen Rebellionen scheinen mehr denn je mit der gesamten Wirklichkeit zusammenzufallen. Sie sind nicht anders als alles andere, kurzum: kaum zu erkennen. Kein Gegenbild, keine Verweigerung. Kein Widerstand, kein Sand im Getriebe. Keine Utopie, keine besondere Empfindsamkeit, keine Belebung. Die moderne Gesellschaft, ihr technischer Standard und ihr Konsum rasen mit routinierter Mechanik an allen Orten. Man könnte darüber verzweifeln, in dumpfe Depressionen verfallen oder sich ein für allemal mit zynischer Vernunft in das Räderwerk einfügen. Aber, wie Adorno einmal schrieb: "Menschen, die blind in Kollektive sich einfügen, machen sich selber zu etwas wie Material und löschen als selbstbestimmte Individuen sich aus." Und der Dichter René Char würde hinzufügen: "Wir sind heute dem Unheil näher als der Sturmglocke, so daß es hohe Zeit ist, uns eine Gesundheit des Unglücks zu schaffen. Sollte ihr gleich etwas anhaften von der Arroganz des Wunders... .Die Wirklichkeit stillt zuweilen den Durst der Hoffnung. Deswegen lebt, wider alles Erwarten, die Hoffnung fort."

Einführung       Die Künstler       Die Sponsoren       Jürgen Raap       Dr. Werner Peters