Dr. Werner PetersAuszeit der DemokratieAuszeit - ein wunderbar schillerndes Wort. Es kann Beruhigung bedeuten, ein Innehalten im hektischen Spielverlauf, bei dem die Akteure sich wieder neu gruppieren können und Atem schöpfen, wo es - im Spiel - gelingt, sich aus dem unerbittlichen Fluß der Zeit herauszuziehen. Auszeit hat auch etwas Bedrohliches; das Endgültige des Aus schwingt als Oberton immer mit. Auszeit der Demokratie hat sicherlich nichts Spielerisches, aber dennoch sollte man nicht nur die offensichtliche Gefahr darin sehen, sondern auch die Chancen aufzuspüren versuchen, die in einem solchen Innehalten stecken könnten. Auszeit der Demokratie ist das absolut passende Wort für unsere gegenwärtige Krise - aber Krise endlich einmal wieder verstanden in ihrem ursprünglichen Wortsinn als Zeit der Entscheidung. In unserem Sprachgebrauch ist das Wort Krise in seiner Bedeutung geschrumpft auf Begriffe wie Störung, Elend, Flaute, Tiefpunkt. Für die Griechen war die Krisis die Zeit, in der die Dinge scharf und damit klar wurden, in der Unterscheidungen und damit erst Entscheidungen möglich wurden. Auszeit der Demokratie in diesem Sinne könnte die Spanne sein, in der wir uns wieder klarwerden, was die Demokratie uns eigentlich bedeutet, was sie ausmacht, was sie wert ist, wo sie gefährdet ist und wie man sie retten kann. Aber ist uns diese Auszeit überhaupt gegeben? Als Muße zum ruhigen Reflektieren mit Sicherheit nicht. Wir können den Strom der Zeit nicht innehalten, der heute und morgen und jeden Moment immer wieder bedrohliche Entwicklungen hochspült. Trotzdem müssen wir es wagen, uns auszuklinken aus der Atemlosigkeit des Geschehens, auf die Gefahr hin, daß in der Auszeit die katastrophale Drift sich fortsetzt, aber aus der Hoffnung heraus, daß in dieser Frist Pläne zur Rettung reifen, wie Hölderlin tröstlich prophezeit hat: "In der Gefahr wächst doch das Rettende auch." Das "Rettende" kommt nur aus der Einsicht - zur Einsicht bedarf es des Blicks von außen. Auszeit ist Zeit der Einsicht. Als eine grundlegende Einsicht in die gegenwärtige Lage der Demokratie in Deutschland erweist sich die Tatsache, daß die westlichen Demokratien einen großen Teil ihres Selbstverständnisses aus der Abgrenzung zu einem Feindbild, der kommunistischen Gesellschaftsordnung, bezogen haben. Mit dem Zusammenbruch dieses Systems ist offensichtlich auch der eigene Halt erschüttert; es zeigt sich eine Leere an positiven Inhalten der Demokratie. Der Sicherheit, wogegen man war, steht keine vergleichbare Klarheit und Sicherheit über die fundamentalen Werte der Demokratie gegenüber. Die Grundbegriffe der Demokratie - Freiheit, Meinungsvielfalt, Selbstverwirklichungsrecht - erweisen sich als reine Worthülsen, weil sie nie internalisiert worden sind. Dies gilt in besonderem Maße für Gesellschaften wie der deutschen, deren demokratische Tradition recht jung und außerdem nicht einmal originär ist, sondern nach der Vernichtung des Faschismus durch die Siegermächte von außen initiiert wurde. Die Auszeit vermittelt uns die unabweisbare Erkenntnis: wir sind lausige Spieler, wir haben nicht die richtigen Fähigkeiten und Fertigkeiten trainiert für dieses "Spiel", wir haben nicht die nötige Kondition für die damit verbundenen Anforderungen an jeden einzelnen Bürger, wir kennen teilweise nicht einmal die Spielregeln, und was das Schlimmste ist, wir ertappen uns dabei, daß wir eigentlich keinen richtigen Spaß daran haben. Von einigen ermutigenden Ausnahmen abgesehen, fehlt es der deutschen Gesellschaft an einer Verankerung in einem festen Fundament demokratischer Werte. Die Gesellschaft hat kein klares demokratisches Selbstverständnis. Konkret: es gibt zu wenig demokratische Selbstverständlichkeiten, die unumstößlich sind, die Halt und Orientierung geben. Wenn alles ruhig ist, fällt das nicht auf. Man dümpelt so vor sich hin, aber es ist abzusehen - und die ersten Anzeichen sind schon da -, wann aus dem Dümpeln ohne Anker ein Driften wird in unbekannte oder vielmehr allzu bekannte gefährliche Gewässer. Die Antworten der Politiker- Schönwetter-Kapitäne allesamt - auf die großen Herausforderungen, denen sich die westlichen Demokratien in der Nach-Kalten-Kriegs-Zeit gegenübergestellt sehen, zeigen einen unverkennbaren Hang zur Aufgabe demokratischer Grundprinzipien: in der Asylpolitik, beim Einsatz der Bundeswehr außerhalb des Verteidigungsfalls, bei der Einschränkung der Grundrechte zur Bekämpfung des organisierten Verbrechens. Keiner wird den Politikern ein perfides Komplott zur Untergrabung unserer demokratischen Grundordnung unterstellen. Es ist Prinzipienlosigkeit aus schlichter Unkenntnis demokratischer Prinzipien. Dieser Abbau demokratischer Errungenschaften im Bereich der Grundrechte ist aber nur ein Teilaspekt einer generellen Tendenz; sich nach rückwärts zu orientieren, sich den Problemen der Zukunft nicht zu öffnen, sondern sein Heil in Methoden der Vergangenheit zu suchen. Ein Beispiel von geradezu tragischer Dimension ist die verpaßte Chance zum Aufbrechen der verkrusteten Strukturen der westdeutschen Gesellschaft und damit zur Modernisierung und Zukunftssicherung ihres politischen Systems im Rahmen der Wiedervereinigung. Man wollte nicht wahrhaben, daß mit diesem geschichtlichen Ereignis ein ganz neues Deutschland entstanden war, auf das die Formeln der Vergangenheit, teilweise sowieso schon recht abgenutzt, nicht mehr zutreffen. Die Herausforderung zur Erneuerung wurde bewußt zurückgewiesen, eine gigantische Restauration betrieben - "Rückgabe statt Entschädigung" sei stellvertretend für alles andere genannt -, deren verhängnisvolle Folgen inzwischen deutlich werden. Auch die vom Grundgesetz implizit geforderte Neugestaltung der Verfassung und Anpassung an die neuen Gegebenheiten wird, wie man jetzt schon absehen kann, denselben restaurativen Kräften zum Opfer fallen. Das Beharren auf dem scheinbar Bewährten, die Unfähigkeit, neuen Problemen auch mit neuen Antworten entgegenzugehen, die Gleichsetzung von sozialen Besitzständen mit Grundrechten und die geradezu hysterische Abwehr aller Veränderungsversuche - dies sind die Grundmuster der deutschen Politik. Die Gesellschaft bunkert sich immer mehr ein und macht den Nachrückenden den Raum eng und die Luft stickig. In einer solchen Situation kann die Sehnsucht nach dem großen Befreiungsschlag übermächtig werden. Ihr gilt es genauso kühl gegenüber zu bleiben und auf Distanz zu gehen wie zu den Beschwichtigungsformeln der Berufspolitiker, die uns einreden wollen, es handele sich bei der gegenwärtigen Akzeptanzkrise der Politik nur um vorübergehende Turbulenzen und nicht um strukturelle Defizite. Während Beschwichtigung den Fäulnisprozeß unserer Demokratie weiter verschlimmert, weil verschleppt, birgt der Befreiungsschlag die Gefahr, daß bei der Operation der Patient gleich mit erledigt wird. Es ist ja kein Zufall, daß bei all den Problemen, denen die Demokratie derzeit hilflos gegenübersteht, der Rechtsradikalismus als ungebetener Ratgeber und Helfer sich mit schnellen, einfachen Lösungsvorschlägen andient. Was wir brauchen, ist eine neue Form von Radikalismus, ein demokratischer Radikalismus, eine mutige und kompromißlose Rückbesinnung auf die Wurzeln der demokratischen Gesellschaftsordnung. Bedauerlicherweise hat das Wort Radikalismus, insbesondere im politischen Umfeld, jeden Bezug zu seiner ursprünglichen Bedeutung verloren und nur noch einen sinistren, bedrohlichen Klang. Radikal sein aber heißt zunächst und eigentlich, den Dingen auf den Grund gehen und nicht an der Oberfläche bleiben, Probleme an ihren Wurzeln (radix, lat. = Wurzel) anpacken, statt an den Symptomen zu kurieren, sein Verhalten an Prinzipien orientieren, statt die Unverbindlichkeit zum Prinzip zu erklären. Radikale Demokratie ist der Weg aus der Auszeit. Die gegenwärtige Krise der Demokratie ist hausgemacht durch Unverbindlichkeit, Oberflächlichkeit, Gleichgültigkeit, Bequemlichkeit. Wir haben die Demokratie - oder das, was wir dafür gehalten haben - genossen, aber wir haben nichts dafür getan. Wir haben uns um unsere private Zufriedenheit gesorgt und das öffentliche Leben den Parteien und Berufspolitikern überlassen, die wir beschimpft und verachtet haben, aber nicht gehindert, die Demokratie, unsere Demokratie, in ihren Besitz zu nehmen. Wir haben, wenn wir ehrlich sind, die Wurzeln der Demokratie vergessen, wahrscheinlich weil wir uns immer nur mit ihren Erscheinungen beschäftigt haben, aber nicht mit ihrem Wesen. Es ist also keine Frage, wo wir ansetzen müssen für einen radikalen Neuanfang der Demokratie: bei uns selber. Alle Krankheitssymptome unseres derzeitigen Zustandes, auch die schlimmsten Verfallserscheinungen unseres demokratischen Systems, sind letztlich darauf zurückzuführen, daß wir uns nicht genügend darum gekümmert haben. Wir sind allzu lang der bequemen Meinung gewesen, das System regele sich schon selbst und seine Verwalter, so ungenügend sie uns auch schienen, könnten ihm letztlich nichts antun, schlimmstenfalls könnten wir sie, falls sie es allzu toll trieben, auswechseln und davonjagen. Die Wirklichkeit sieht anders aus: In den modernen westlichen Demokratien wird die Politik nicht mehr vom Volk bestimmt, sondern von einem Establishment professioneller Politiker, die zwar, was die einzelnen Personen und ihre jeweiligen Positionen angeht, dem durch Wahlergebnisse erzwungenen Wechsel unterworfen sind, in ihrer Gesamtheit jedoch als eine permanente Machtelite funktionieren. In Deutschland ist diese politische Situation besonders ausgeprägt. Die Parteien haben aufgrund einer in der Rückschau nur noch als katastrophale Fehleinschätzung zu bezeichnende Entscheidung Verfassungsrang im Grundgesetz erhalten und die dort festgelegte Erlaubnis, an der Willensbildung des Volkes mitzuwirken, schamlos dazu ausgenutzt, den Staat bis in die kleinsten Verästelungen in Besitz zu nehmen. Dabei darf man ihnen nicht einmal Bösartigkeit unterstellen. Sie füllten einfach ein Vakuum aus, das durch die politische Lethargie der Restbevölkerung entstanden war. Der Souverän der Demokratie, der Bürger, hatte mit Vergnügen abgedankt zugunsten der Polit-Profis, um sich nur noch seinen privaten Interessen zu widmen. "Alle Macht geht vom Volke aus", so lautet das Credo der Demokratie, aber wo sie bleibt, darüber hat man sich bisher zu wenig Gedanken gemacht. Sie sammelt sich in einer Art Nomenklatura, wie die betonisierten Machtzentren der osteuropäischen Parteien genannt wurden. Diese Nomenklatura existiert auch in den entwickelten westlichen Demokratien, mit dem einzigen, sicherlich nicht unbedeutenden Unterschied, daß es sich bei uns um mehrere Parteien handelt. In ihrer Struktur einer etablierten Machtelite, die das gesamte Leben der Gesellschaft beherrscht, besteht kein Unterschied. Es wäre naiv anzunehmen, der Souverän der Demokratie, der mündige Bürger, der sich mit Vergnügen hat entmündigen lassen, solange es ihm gut ging, könnte mit einem Federstrich, noch besser: mit einer souveränen Handbewegung wie seinerzeit seine glücklicheren Vorgänger, die absolutistischen Fürsten, dem ganzen Spuk ein Ende bereiten und die Parteiendemokratie, die sich inzwischen zur Parteiendiktatur entwickelt hat, in ihre Schranken weisen. Die Geister, die man rief oder die man gewähren ließ, wird man so schnell nicht los. Die Parteien werden nicht ohne Not die Machtpositionen räumen, die ihnen zugefallen sind und die sie immer weiter ausgebaut haben. Aber diese Not hat sich mittlerweile für das politische Establishment sozusagen von selbst eingestellt und läßt sich nicht mehr abweisen. Das ist einer der wenigen positiven Aspekte unserer derzeitigen krisengeschüttelten Demokratie. Die Parteien empfinden mit Recht die zunehmende Wahlenthaltung der Bevölkerung als Herausforderung und Bedrohung und reagieren zutiefst verunsichert. Verzweifelt bemühen sie sich, den verlorenen - vielleicht niemals vorhandenen? - Kontakt mit den Bürgern (wieder-) herzustellen. Obwohl ihre Positionen durch die zunehmende Distanz und vehemente Ablehnung, die sie von der Wahlbevölkerung erfahren, faktisch nicht gefährdet sind, spüren sie die tieferliegende Bedrohung für das ganze System. Die Demokratie kommt nicht aus ohne eine, wenn auch nur implizite, schweigende Zustimmung zur Herrschaft der Regierenden. Wird diese, wie jetzt, immer offenkundiger und herausfordernder verweigert, so bildet sich unter dem Tableau der Herrschenden ein Vakuum, das irgendwann so übermächtig wird, daß es diese einsaugt und verschlingt. Dies war die Geschichte der "fest"-gefügten Herrschaftsstrukturen in den ehemalig kommunistischen Ländern, dies hat sich im Kern, wenn auch in anderer Form, mit elementarer Wucht bereits in einer besonders korrumpierten westlichen Demokratie, in Italien, wiederholt. Vor dieser Entwicklung zittern alle europäischen Parteien. Die etablierten Politiker sind zur Einsicht gekommen, daß sie, teils mit Lust und Absicht, den Bogen erheblich überspannt haben. Sie sind bereit, einen Teil der usurpierten Macht zurückzugeben, um das Ganze zu retten. Auch für die Parteiendemokratie ist eine Auszeit eingeläutet worden. Man sucht nach Mitteln und Methoden, um den rutschigen Boden, die Basis, die dabei ist, wegzukippen, wieder zu befestigen. Das Stichwort heißt neue Bescheidenheit. Dies ist eine Chance für die notwendige radikale Umgestaltung der Demokratie - nicht indem man die Parteien versucht abzuschaffen. Dafür sind sie nicht nur viel zu stark und hängen zu sehr an ihrem Leben. Moderne Demokratien sind auf die Existenz von Parteien angewiesen, und die Erfahrung zeigt, daß der Ruf nach Abschaffung der Parteien nie bis zum Ende erhört wurde, sondern immer mit der Etablierung einer einzigen als gräßliches Monstrum beantwortet wurde. Aber wir haben jetzt die Chance, den Parteien wieder zu dienen und sie nicht zu Herren der Demokratie zu machen. Wir sollten aus ihren Reformvorschlägen, mit denen sie um unsere erneute Zustimmung (Vertrauen wird es wohl nie mehr geben) werben, diejenigen gutheißen und umsetzen lassen, die an die Wurzeln des Machtmißbrauchs gehen und die Bürger wieder in ihre Rechte einsetzen, andererseits auch klar unsere Ablehnung gegen die vielen nur kosmetischen Positionsveränderungen und Machtverschiebungen zum Ausdruck bringen, die zur Zeit unter dem Stichwort Partei- und Demokratiereform vom politischen Establishment in die Diskussion gebracht werden. Am wichtigsten aber ist, daß wir unsere eigene Position bestimmen, daß wir uns klar werden und konkret formulieren, was wir unter einer radikalen, d.h. bei den Wurzeln des demokratischen Selbstverständnisses ansetzenden Demokratie verstehen. Dies aber ist keine kontemplative Tätigkeit, sondern setzt aktives Eingreifen in die Politik voraus. Wir hatten schon gesagt, daß die Entstehung der Parteiendemokratie nicht das Ergebnis eines erbitterten Kampfes zwischen Parteien und Bürgern um Rechte und Machtpositionen in diesem System war, sondern die Parteien sich praktisch in einem Vakuum ausbreiten konnten, das die politische Inaktivität der Bürger entstehen ließ. Jeder noch so wohldurchdachte und wohlmeinende Vorschlag zur Beschneidung der Parteienherrschaft in der Demokratie muß zwangsläufig scheitern, wenn das Staatsvolk sich weiter nur als Wähler fühlt und das politische Handeln den angeblich politisch Berufenen, bzw. politisch Berufstätigen überläßt. Hier besteht in Deutschland und vermutlich den meisten anderen westeuropäischen Demokratien ein großer Nachholbedarf an demokratischem Selbstverständnis, der sich vor allem im Vergleich mit der amerikanischen demokratischen Tradition auftut. In Europa wird die Demokratie hauptsächlich von ihren Formen und Institutionen her begriffen: Gewaltenteilung, Rechtsstaatlichkeit, Herrschaft der Mehrheit, freie Wahlen zur periodischen Ablösung der Regierung. Vor einigen Jahren hat der Philosoph Karl Popper in einem Artikel im "Spiegel" für eine sozusagen abgespeckte Vorstellung von Demokratie plädiert. Er reduzierte sie auf die sicherlich nicht unbedeutende Tatsache, daß in dieser Staatsform die Bürger die Möglichkeit haben, den Wechsel in der Regierung zu erzwingen und darüber hinaus mit der Drohung dieser Ablösung die Regierung im Amt zur Mäßigung anzuhalten. Bei aller Hochachtung vor dem großen Philosophen muß man leider sagen, daß genau dies das grundlegende Mißverständnis von Demokratie ist. Damit wird Demokratie reduziert zu einer abgewandelten, milden Form von Monarchie und Aristokratie - eben mit der Möglichkeit, die Herrschenden gelegentlich auszutauschen. Das Wesen der Demokratie ist gerade die Tatsache, daß hier die Regierten selbst auch die Regierenden sind, oder weniger emphatisch formuliert, die Mitglieder des Staatsvolkes nicht nur aufgerufen, sondern aus dem Selbstverständnis der Demokratie heraus sogar verpflichtet sind, sich um die Regelung ihrer eigenen Angelegenheiten zu kümmern. Das klingt wie eine Idylle aus einer Zeit, als die Verhältnisse noch überschaubar und die Räume noch klein waren. Unserer hochkomplexen, durchorganisierten Massengesellschaft scheinen solche Forderungen an den demokratischen Staatsbürger, sich persönlich und aktiv einzumischen in die Angelegenheiten der Gesellschaft, in der er lebt, überholt und unangemessen. Wir akzeptieren ohne Nachfragen die geschaffenen Strukturen, in denen, wie überall so auch für die Politik, Spezialisten zuständig sind. Die Partizipation am politischen Prozeß ist aber keine Variable der Größe des Staatswesens, sondern eine Frage der Grundeinstellung zum Wesen der Demokratie. Partizipation ist ein Begriff, der nicht in die Kategorie der Quantität gehört, sondern sich nur als Qualitätsmerkmal bestimmen läßt. Sie ist eine Sache der Qualität des demokratischen Bewußtseins. Keiner ist so naiv, zu erwarten oder zu fordern, daß in einer entwickelten Massendemokratie jeder permanent in allen gesellschaftlichen Angelegenheiten involviert sein müßte. Es geht um die Wand, die in den Köpfen und inzwischen auch in der Wirklichkeit zwischen Verwaltern der Demokratie und den Verwalteten entstanden ist, es geht um die fatale Persönlichkeitsspaltung des demokratischen Bürgers, der sich aktiv und interessiert für seine privaten Angelegenheiten engagiert, aber das Schicksal der Gesellschaft, in der sich sein Leben abspielt, passiv von anderen bestimmen läßt. Einen solchen reinen Privatmann nannten die alten Griechen "Idiotes" - im Unterschied zum Staatsbürger, dem "Polites". Der Beginn des Verfalls der modernen Demokratie ist diese Differenzierung in Privatangelegenheiten, für die man zuständig ist, und Angelegenheiten der Gesellschaft, für die andere zuständig sind. Der amerikanische Staatsmann und politische Philosoph Thomas Jefferson hat dieses Dilemma der Demokratie auf die Formel gebracht: "No private happiness without public happiness." Für Jefferson hat dieses Junktim von privatem und gesellschaftlichem Wohlbefinden mehrere Dimensionen. Zum einen sagt er damit, daß auch das private Glück sich nur in einer funktionierenden Demokratie erfüllen kann und diese und damit das private Glück durch Verweigerung der politischen Mitwirkung gefährdet ist. Zum anderen bringt aber auch erst das Gefühl der Mitbestimmung an der gesellschaftlichen Entwicklung das Glück des Menschen zu seiner letzten Erfüllung. "No private happiness without public happiness" heißt: Der total verwaltete Mensch, der keine Verantwortung und keinen Anteil an der Gestaltung seiner Lebensumstände hat, kann nicht glücklich sein, mag es ihm äußerlich noch so gut ergehen. In einer Atmosphäre totaler Fremdbestimmung gibt es zwar möglicherweise perfekte Verhältnisse, aber kein wahres Glück. Ohne das Gefühl einer gewissen Selbstbestimmung entsteht wie im Privatleben so auch in der Politik eine Umgebung zum Ersticken. Wie im Privatleben ist es für das Gefühl der Selbstbestimmung nicht nötig, sein gesellschaftliches Umfeld in jeder Hinsicht souverän zu beherrschen. Auch im privaten Bereich sind wir weit davon entfernt, unser Leben ganz nach unseren Vorstellungen zu gestalten. Wir sind eingebunden in eine Unzahl von Zwangsläufigkeiten und Selbstverständlichkeiten, und dennoch haben wir Raum zur Selbstbestimmung. Deshalb ist auch die Resignation vor der Vielfältigkeit und Undurchsichtigkeit gesellschaftlicher Zwänge unbegründet. Sie schließen eine sinnvolle Partizipation, ein Mitwirken an gesellschaftlichen Abläufen nicht aus. Den Raum zur politischen Selbstbestimmung schafft sich jeder selber, indem er sich dort engagiert, wo es seinen Interessen und Kräften angemessen ist. Wir kommen hier zu einem weiteren Begriff des Politischen, der auch nur in der Demokratie seine Berechtigung hat. Politik ist nicht nur das, was in institutionalisierten Bahnen betrieben wird, Politik ist alles das, was über den individuellen Bereich, die Privatinteressen hinausgeht und das Zusammenleben der Menschen in der demokratischen Gesellschaft betrifft. In diesem Sinne sind Bürgerinitiativen, Selbsthilfegruppen, Nachbarschaftshilfen, spontane Aktionskomitees, aber auch das nicht-organisierte ehrenamtliche Engagement Teil des Politischen. Solche freiwilligen Organisationen bilden die Plattform für eine demokratische Kultur, die stark genug ist, auch die institutionelle Politik zu gestalten und zu kontrollieren. Von einer solchen demokratischen Kultur sind wir noch weit entfernt. Hier können wir von anderen Ländern (vor allem von Amerika, das uns nach dem Zweiten Weltkrieg zunächst einmal die demokratischen Institutionen gebracht hat) weiter lernen. Diese "voluntary associations", wie sie im Amerikanischen heißen, sind die tragenden Pfeiler der bei all ihren Mängeln immer noch lebendigsten und ausgereiftesten Demokratie. In ihnen ist das Grundprinzip der Demokratie, die bürgerliche Selbst- und Mitverantwortung für die gesellschaftlichen Zustände, zur Wirkung gebracht. Die Partizipation am politischen Prozeß hat auch eine erzieherische Bedeutung. Nur in der ständigen Übung lernt man die bürgerlichen Tugenden des Kompromisses, der Achtung vor der Meinung der anderen, der Fähigkeit, anscheinend unvereinbare Ziele zusammenzubringen, der Toleranz, der Bescheidenheit - den politischen Charaktereigenschaften also, die nicht nur das Überleben, sondern das Wohlbefinden einer demokratischen Gesellschaft garantieren. Aber nicht nur für die "public happiness" sind sie unentbehrlich, sie sind auch auf dem Weg zum privaten Glück ein geeigneter Begleiter. Die Schule der Demokratie ist auch eine gute Schule des Lebens, was nicht verwunderlich ist, da die Demokratie diejenige Staatsform ist, die den menschlichen Grundbedürfnissen nach Freiheit und Selbstbestimmung am besten entspricht. Wir erleben ganz deutlich eine Zeit, die den Atem anzuhalten scheint in der Ungewißheit der zukünftigen Entwicklung. Die Ungewißheit ist nicht nur eine Gefahr, sie ist auch die Chance zu etwas Neuem. Sie ist die Möglichkeit, sich frei zu machen von Strukturen, Institutionen und Personen, die den Erfordernissen der neuen Zeit, sowohl ihren Problemen wie ihren Möglichkeiten, nicht mehr gewachsen sind. Auszeit der Demokratie: ein Atemholen vor der großen Auseinandersetzung, aber auch eine Chance, ein Stück weiterzukommen auf dem Weg zur Verwirklichung einer wahren Demokratie. Einführung Die Künstler Die Sponsoren Jürgen Kisters Jürgen Raap |